Gerechtigkeit 2008: Das Ende der Tabus
Referat von Wolfgang Kessler auf dem 11. Diözesantag der KAB Mainz

Wer sich derzeit in der politischen Diskussion umschaut, fragt sich, warum es Leute gibt, die über mehr Gerechtigkeit diskutieren wollen.

Es ist doch alles in Ordnung. Nach Bundesarbeitsminister Olaf Scholz wird die Zahl der Arbeitslosen in diesem Jahr auf unter drei Millionen zurückgehen. Angela Merkel sagt: »Drei Jahre nach dem Regierungswechsel spüren wir: Es geht uns wieder besser in Deutschland«. SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier ist geradezu euphorisch: »Wir erleben gerade ein Wirtschaftswunder und die rotschwarze Agenda hat dafür die Grundlage gelegt«.

In der Tat ist die Arbeitslosigkeit gesunken, die Neuverschuldung relativ gering, die Sozialabgaben sind in den letzten Jahren kaum gestiegen. Was soll also in dieser blühenden Landschaft die Diskussion über neue Wege zu Gerechtigkeit?

Die Antwort lautet: Die Diskussion ist notwendig, weil sich unter dem Zauber der Reden über den Aufschwungs grundlegende Bedrohungen für diese Gesellschaft verbergen. Es sind sechs:

  1. Zwar wächst derzeit die Zahl der Arbeitsplätze. Dennoch unterliegt Arbeit einem dramatischen Wertezerfall. Knapp vier Millionen Menschen sind noch immer arbeitslos. Drei Viertel der neuen Arbeitsplätze sind Mini-Jobs, Midi-Jobs, befristete Arbeiten oder Plätze für Leiharbeiter. Rund sechs Millionen Beschäftigte verdienen teilweise weit weniger als sieben Euro pro Stunde, immer mehr Leute brauchen auch in Deutschland mehr Jobs, um über die Runden zu kommen. Ein Viertel der Beschäftigten hat keine sozialversicherungspflichtige Stelle.

  2. haben sich die Arbeitsbedingungen zu Lasten der Gesellschaft verändert. Überall wächst der Konkurrenzdruck und mit ihm wachsen Erscheinungen wie Mobbing. Die häufiger werdenden befristeten Arbeitsverhältnisse – fast die Hälfte aller jüngeren Beschäftigten haben solche – schaffen Industrie-Nomaden nach dem Motto: Heute hier, morgen dort. Befristete Arbeit ist inzwischen die wichtigste Ursache dafür, dass junge Leute seltener Familien gründen und Kinder bekommen, weil sie hochflexibel und am besten ungebunden ihrer Arbeit hinterher jagen müssen.

  3. Wir erleben derzeit eine ungeheure Dominanz der Finanzmärkte. Sie sind so unkontrolliert, dass Geld im Nu hin- und hergeschoben werden kann. Steueroasen laden zu Steuerhinterziehung ein. Betriebe können in wenigen Monaten verlagert werden. An den Börsen werden inzwischen Renditen von 25 Prozent auf das eingesetzte Kapital erwartet – vor 20 Jahren waren es fünf. Oft genug wird diese Rendite von den Arbeitseinkommen abgetrotzt. Der Anteil der Unternehmens- und Vermögenseinkommen hat von 1996 bis 2006 um knapp vier Prozentpunkte auf 33,8 Prozent zugenommen – den sinkenden verbleibenden Anteil teilen sich die Arbeitnehmer. Finanzinvestoren kaufen ganze Betriebe auf – manchmal mit guten Absichten, oft genug, aber auch nur dazu, um den Wert des Unternehmens ohne Rücksicht auf die Arbeitsplätze zu steigern, um es dann mit hohen Gewinnen verkaufen zu können.

  4. Das Geld ist in Deutschland immer ungleicher verteilt ist. Die Einkommen der Vorstandsmitglieder von großen Unternehmen sind rasant gestiegen – bis zu über 56 Millionen Euro pro Jahr – während die Löhne gesunken sind. Die Zahl der Millionäre erhöhte sich in zehn Jahren von 500.000 auf 750.000 stieg. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt 21 Prozent, das reichste Zehntel fast zwei Drittel des gesamten Vermögens von rund 5000 Milliarden Euro. Gleichzeitig sind drei Millionen Haushalte verschuldet, leben 2,5 Millionen Kinder von Sozialhilfe.

  5. Künftigen Generationen, die in den zehn oder 20 Jahren in Ruhestrand gehen, droht vermehrt die Altersarmut. Dafür sorgen die zahlreichen Renten-Reformen. Wehr- und Zivildienst zählen weniger. Die Bewertung von Jahren in Arbeitslosigkeit oder mit Sozialhilfe wurde drastisch abgesenkt – 2,09 Euro pro Monat für ein Jahr Hartz IV. Der Nachhaltigkeitsfaktor senkt die Renten in Zukunft direkt ab. Und ab 2012 soll ein Nachholfaktor die Renten gleich senken können. Eine Rente von heute 1000 Euro netto wird danach im Jahre 2030 nur noch 785 Euro pro Monat betragen.

  6. Und zu alledem die Herausforderungen durch die globale Konkurrenz und die ökologischen Knappheiten bei endlichen Rohstoffen: Die Preise werden über die kommenden Jahre steigen und besonders die sozial Schwächeren hart treffen. Gleichzeitig werden die ökologischen Knappheiten zu großen Umwälzungen in der deutschen Wirtschaft führen, die hunderttausende Arbeitsplätze vernichten, aber auch hunderttausende neu schaffen. Offen ist die Frage, wie diese Umwälzungen ohne die totale soziale Zerrüttung der Gesellschaft bewältigt werden kann, wenn sich die soziale Spaltung der Gesellschaft schon im Aufschwung verstärkt.

So leben wir in einer Gesellschaft, die sich immer stärker aufspaltet, in Verlierer und Gewinner. Und damit gehen wir schweren Zeiten entgegen. Denn der Aufschwung wird zum Abschwung. Die Exporte lassen nach, weil die USA schwächelt, Frankreich und Spanien in die Krise geraten und die Bankenkrise ihre Folgen hinterlässt.

Trotz dieser Gefahr ist die Politik scheinbar ratlos. Bundeskanzlerin Angela Merkel moderiert zwar geschickt die Interessen in der Politik. Doch Problemlösungen erwarten die Menschen von dieser Regierung nicht. Sie haben Angst vor der Zukunft.

So bleibt die Frage: Gibt es Alternativen?

Die Antwort lautet: Es gibt Alternativen, wenn man die traditionellen wirtschaftlichen Pfade verlässt, die entweder nur auf den Markt oder nur auf den Staat setzen. Stattdessen gilt es, auf die neuen Herausforderungen der globalen Konkurrenz mit neuen Mitteln zu reagieren: mit einer Kombination aus unternehmerischer und geldpolitischer Kreativität, einer gerechten Teilhabe aller an den Erträgen und einer breiten sozialen Absicherung.

Sechs Schritte könnten eine neue Entwicklung einleiten:

  1. Gerechte Steuerpolitik und Zukunftsinvestitionen: Die Politik der Schwächung von nationalen Regierungen durch weitere Steuersenkungen hat keine Zukunft. Es ist dann nicht möglich, in jene Bereiche zu investieren, die vom Markt alleine nicht gefördert werden. Doch die Zukunft dieser Gesellschaft hängt von Investitionen in die Zukunft ab, die neue Arbeit schaffen, wenn anderswo Arbeit verlorengeht und die die Menschen ihr Leben lang immer wieder neu auf das Arbeitsleben einstellen. Deshalb ist es notwendig, alle Einkommen – Löhne, Gehälter, Gewinne, Zinsen, Kapitalerträge, Vermögen, Erbschaften – fair, das heißt progressiv, nicht zu hoch, aber konsequent zu besteuern – und dabei viele Sonderregelungen im Steuerwesen abzuschaffen. Mit dem Ziel, die Steuereinnahmen zu erhöhen. Und dieses zusätzliche Geld wird dann massiv in die Zukunft dieses Landes investiert: zum einen in Innovation, in Forschung und Entwicklung, aber auch in den Ausbau der Infrastruktur dieses Landes, vor allem durch kommunale Investitionen. Zum anderen in Bildung, vor allem in Ganztageskindergärten und Ganztagesschulen, vor allem in die Betreuung von Kindern aus prekären Verhältnissen aber auch in den Ausbau. Denn dieses Land kann es sich nicht leisten, dass jedes Jahr 120.000 Schüler die Schulen ohne Schulabschluss verlassen – in Finnland sind dies 200. Investitionen in diese Zukunftsbereiche würden hunderttausende Arbeitsplätze schaffen und Deutschland zukunftsfähig machen – dies zeigt die Förderung der erneuerbaren Energiequellen mit 120.000 neuen Arbeitsplätzen in den vergangenen fünf Jahren.

  2. Die Globalisierung verändert ständig die Lebensverhältnisse und verstärkt die Lebensrisiken. Unter diesen Bedingungen brauchen wir in den Industrieländern eine Politik, die die Menschen in den wichtigsten Lebensbereichen nach unten absichert: bei der Arbeit, im Alter und bei Krankheit. Im Bereich der Arbeit erfordert dies einen gesetzlichen Mindestlohn. Im Sozialbereich brauchen wir eine Grundsicherung vor allem für Kinder. Im Bereich der Rente und der Krankenversicherung erfordert dies eine Rentenversicherung für alle – mit einer Mindestrente. Wie dies geht, das zeigen die Alpenländer. Dort sind alle Bürgerinnen und Bürger ab dem 20. Lebensjahr Mitglied der Rentenversicherung und entrichten Beiträge, zusammen mit ihren Arbeitgebern. Im Prinzip ist es das gleiche System wie in Deutschland – aber mit zwei Unterschieden: Zum einen zahlen alle Bürger ein – unabhängig davon, ob sie erwerbstätig, nicht erwerbstätig, selbstständig, angestellt, beamtet, Arbeiter oder Angestellte sind. Außerdem entrichten sie Beiträge von allen Einkommen – von Löhnen, von Gehältern, von Gewinnen und von Vermögenserträgen. Diese breite Basis der Rentenversicherung – alle Bürger, alle Einkommen – hat zwei große Vorteile: Alle Bürgerinnen und Bürger sind im Alter abgesichert, was in Deutschland längst nicht für alle Frauen gilt. Und zudem sind die Beiträge nur halb so hoch wie hier zu Lande – so dass die Nettolöhne höher und die Lohnnebenkosten der Betriebe geringer sind. Ähnliches gelingt Österreich in der Krankenversicherung. Alle Bürger sind in gesetzlichen Krankenversicherungen, die die Grundversorgung absichern und Medikamente auf einer Positivliste bezahlen. Die Beiträge für die Beschäftigten sind halb so hoch wie in Deutschland. In beiden Ländern sind alle Menschen im Alter und gegen Krankheit abgesichert – und dies bei höheren Nettolöhnen und geringeren Lohnnebenkosten.

  3. Kürzere und flexible Arbeitszeiten: Wenn weniger Menschen in geringerer Zeit mit mehr Technik immer mehr produzieren, braucht man sehr hohe Wachstumsraten oder kürzere Arbeitszeiten, um Arbeitslosigkeit zu verringern. Hohen Zuwachsraten sind in Industrieländern Grenzen gesetzt. Die Alternative sind kürzere Arbeitszeiten. Dabei geht es weniger um die 35-Stunden- oder 32-Stunden-Woche. Diese entspricht oft weder den Bedürfnissen kleinerer und mittlerer Betriebe noch den Bedürfnissen der Beschäftigten. Aussichtsreicher sind Teilzeitarbeit, Sabbatjahre, Elternteilzeit, Job-Rotation (Arbeitslose ersetzen Mitarbeiter, die sich längere Zeit weiterbilden) oder der Abbau der 1,6 Milliarden Überstunden in Deutschland (rechnerisch 1,1 Millionen Arbeitsplätze). Warum fördert der Staat nicht die Verringerung von Arbeitszeiten oder den Abbau von Überstunden, wenn dafür Arbeitslose eingestellt werden?

  4. Höhere Löhne und mehr Beteiligung: Die Politik sinkender Löhne bei steigenden Renditen hat keine Zukunft. Sie macht uns zwar zu Exportweltmeistern, sorgt aber für ein Ladensterben, weil die Menschen geringere Einkommen haben. Deshalb brauchen wir stetige Lohnerhöhungen im Einklang mit der steigenden Arbeitsproduktivität. Mindestlöhne müssen Lohndumping – verhindern. Da Produktivität und Kreativität in Unternehmen vor allem von den Beschäftigten abhängen, müsste der Staat ihre Stellung stärken. Warum erhalten Unternehmen nicht dann Steuervorteile, wenn sie ihre Beschäftigten am Gewinn beteiligen? Warum gibt es kein staatlich verbrieftes Vorkaufsrecht für Belegschaften, wenn ihre Betriebe verkauft werden sollen? Dann wären die Chancen für spekulative Finanzinvestoren geringer, jene der Arbeitsplätze größer.

  5. Neue Ziele für das Geld: Wir brauchen einen neuen Umgang mit Geld. Im Falle des großen Geldes geht es um Kontrolle: Finanzmärkte brauchen Kontrolle: Steueroasen müssen Regeln beachten und ausgetrocknet werden, Hedgefonds müssen ihre Bilanzen und Anleger offenlegen, es muss ihnen verboten werden, ihre Beteiligungen mit Krediten zu finanzieren; auch geht es nicht an, den Verkauf von Unternehmensanteilen steuerfrei zu stellen – steuerbegünstigt kann er allenfalls nach zehn Jahren werden, steuerfrei nie. Denn sonst werden Unternehmen zum kurzfristigen Handelsobjekt und nicht zum langfristigen Gestaltungsziel. Aber es geht bei einem neuen Umgang mit Geld auch um die allgemeinen Anlagen. Unsere Spargelder werden derzeit vor allem mit einem Ziel investiert: mit dem Ziel einer möglichst hohen Rendite. Dies bedroht die Wirtschaft. Denn viele wichtige Unternehmungen werden nicht gefördert, weil sie nicht genügend Rendite abwerfen. Wie es anders geht, zeigen andere Banken: Mehrere Banken – allen die GLS-Gemeinschaftsbank und die Umweltbank in Nürnberg, beweisen täglich, dass Geld auch anders investiert werden kann als für den größtmöglichen Gewinn: Sie investieren inzwischen weit mehr als eine Milliarde Euro Spargelder in originelle Unternehmungen. Mit ihren Krediten bauen Eltern Kindergärten und Schulen, schaffen Genossenschaften und Kleinbetriebe Arbeitsplätze, blühen erneuerbare Energiequellen und Biohöfe auf. Mehr als 10.000 Projekte sichern mehr als 100.000 Arbeitsplätze. Und es könnten leicht mehr werden, wenn der Staat Initiativen für einen anderen Umgang mit Geld unterstützen würden: Warum erhalten Anleger nicht Steuervorteile, wenn sie ihre Ersparnisse ethisch anlegen? Denn ein solcher Umgang belohnt Kreativität und schafft Arbeit, die anderswo hohen Renditen geopfert wird.

  6. Eine besondere Herausforderung für eine gerechte Gesellschaft ist die ökologische Frage: Wenn die Weltgesellschaft angesichts hoher Wachstumsraten in Ländern wie China, Indien, Indonesien oder Brasilien bei endlichen Rohstoffen langfristig friedlich überleben will, brauchen wir eine Veränderung hin zu einem Wirtschafts- und Lebensstil mit weit geringerem Ressourcenverbrauch. Und hier haben wir ein Problem: Wenn die Preise endlicher Rohstoffe steigen – dann trifft dies vor allem die sozial Schwächeren. Deshalb brauchen wir Anreize, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: nämlich um die Umwelt zu schonen und mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Wie kann das gehen: Stellen Sie sich folgendes vor. Der Liter Sprit wird um 10 Cent teurer, der Liter Heizöl und der Kubikmeter Erdgas auch. Der Preis einer Kilowattstunde Strom steigt um 1 Cent, und der Preis einer Tonne Kerosin um 100 Euro. Und weil der Umweltverbrauch nicht nur im Energiesektor stattfindet, wird auch eine Abgabe auf den Flächenverbrauch erhoben – sagen wir mal: 5 Euro pro Quadratmeter.« Das ergibt derzeit Einnahmen von rund 20 Milliarden Euro jährlich. Doch jetzt verhält sich die Regierung nicht mehr wie bei der Ökosteuer. Nein, sie hat gelernt und gibt die Einnahmen aus den Ökoabgaben an die Bürger zurück: in Form eines jährlichen Grundeinkommens von 250 Euro für alle Bürger, vom Baby bis zum Greis. Da fragen sich viele: Was soll das – erst nehmen, dann geben? Die Antwort lautet: Die größten Gewinner sind diejenigen, die mit dem geringsten Energieverbrauch auskommen: Wer wenig Strom und Sprit verbraucht und nicht privat fliegt, wird am Ende mehr vom Staat herausbekommen, als er über die Ökosteuer an den Staat bezahlt hat. Dieses Ökosteuersystem belohnt diejenigen, die Energie und Ressourcen sparen – und gleicht soziale Härten aus. Durch dieses Anreizsystem würden die Ziele der Wirtschaft neu definiert: nicht mehr kurzlebige Massenprodukte mit hohem Energieverbrauch wären das Maß aller Dinge, sondern langlebige Produkte, die recyclingfähig und reparaturfähig sind. Und Joghurts würden nicht mehr 9000 Straßenkilometer enthalten, weil die Erdbeeren aus Polen, die Becher aus Portugal und Etiketten aus Niedersachsen stammen. Jetzt wäre die Wirtschaft von Tag zu Tag umweltgerechter – und die Menschen erhalten einen sozialen Ausgleich.

Was bedeuten diese sechs Schritte nun?

Stellen Sie sich nur für wenige Minuten vor, diese Schritte wären Wirklichkeit: Innovation würde gefördert, Bildung würde gefördert; ein anderer Umgang mit Geld sorgt dafür, dass Handwerksbetriebe wieder Kredite erhalten ebenso wie Eltern, die einen Kindergarten aufbauen und gleichzeitig sind alle an den Erträgen der Wirtschaft beteiligt. Viele arbeiten vielleicht weniger, so dass mehr Leute arbeiten können. Alle tragen alle mit allen Einkommen zur sozialen Sicherung bei, so dass alle Menschen im Alter, bei Krankheit und im Pflegefall abgesichert sind. Es gibt jetzt Anreize für die Versöhnung von Umwelt und Wirtschaft, ohne dass dies die Ärmeren besonders belastet.

Natürlich fragen alle: Wie kommen wir dazu? Die Antwort lautet: Durch zwei Strategien:

Erstens müssen die Menschen ihre Rolle als Wirtschaftspolitiker aktiv wahrnehmen. Sie sind es, die waren kaufen und Geld anlegen. Die Unternehmen nehmen die Menschen vor allem als Käufer und Sparer wahr. Also sollten die Menschen diese Rolle ausfüllen. Was sie nicht kaufen, wird nicht produziert, was sie nicht finanzieren, auch nicht. Wenn sie aber bewusst fair gehandelte, ökologisch produzierte Waren kaufen und bewusst ihr Geld ethisch anlegen – dann stärken sie den fairen Handel, die Umwelt und die Ethik. Kein noch so mächtiger Konzern, keine noch so mächtige Bank kann und wird sich gegen die Wünsche von Millionen Kunden wehren.

Allerdings sind nicht alle Probleme durch die Bürger alleine zu lösen. Dafür braucht man die Politik. Doch die Politik wird sich so lange an mächtigen Interessengruppen orientieren, wie die Bürger nicht aktiv werden. Wenn diese jedoch aktiv werden, dann verändert sich die Politik. Das hat die Friedensbewegung gezeigt und das hat die Umweltbewegung gezeigt. Jetzt braucht Deutschland eine Sozialbewegung. Erst wenn sich kirchliche Verbände, Gewerkschaften, Frauenbewegungen ohne Berührungsängste mit neuen sozialen Gruppen wie attac, Weltläden oder Ökologen verbünden, um wieder Bewegung in dieses erstarrte Land zu bringen, dann wird sich auch die Politik wieder verändern. Bei allem Stillstand in der Politik sind die Bedingungen günstig, denn fünf Parteien in den Parlamenten sorgen für Bewegung – sie machen es den Parteien nicht mehr möglich, sich in Lagern zu verschanzen und die Wünsche der Wähler zu ignorieren.

Um es kurz zu machen: Wir haben vielleicht keine Chancen, aber die sollten wir dann entschlossen nutzen.

Dr. Wolfgang Kessler
Chefredakteur
Publik-Forum, Oberusel

Sein aktuelles Buch:
Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Kessler, Wolfgang Storz:
Alles Merkel?
Schwarze Risiken. Bunte Revolutionen.
Publik-Forum Verlag, Oberursel, September 2008
www.publik-forum.de/shop

Die KAB Gernsheim dankt Dr. Kessler für die Erlaubnis der Veröffentlichung des Referats.